Ⅳ : CHRONO CHI │ 1 · Fünf Türen


Sie hatten den halben Weg nach Hause noch vor sich.

Aus den Tropfen war inzwischen ein ordentlicher Schauer geworden.
Das Grau erinnerte Kiro an einen seltsamen Traum.

Die Straßen hatten sich bereits merklich geleert. Es war kaum noch eine Menschenseele unterwegs. Obwohl es eigentlich gar nicht so ungemütlich war. Es herrschte Windstille und man konnte die Sommerwärme aus dem Gehwegpflaster an sich emporschweben fühlen. Das kühle Nass perlte recht angenehm über die Haut und half einem, den schwülheißen Tag zu vergessen.

Dennoch beeilte sich Kiro und legte die nächsten paar hundert Meter noch einen Zahn zu. Nicht, weil er nicht nass werden wollte, sondern weil er sich schon auf die ersten Blitze und den darauf folgenden, geliebten Donner freute. Das Schauspiel wollte er, wie immer, aus seinem alten Baumhaus betrachten. Auch wenn es viele seiner Altersgenossen für albern hielten, mochte er seine kleine geschützte Baumbude aus Kindheitstagen sehr. Er freute sich darauf, seiner seltsamen neuen Freundin seinen geliebten geheimen Ort zu zeigen. Jetzt rannte er fast.

»Beeil dich Neko! Bevor es gleich richtig losgeht! Ich muss dir unbedingt was Schönes zeigen.« Er drehte sich im Laufen nach ihr um. »Wenn du das nicht romant... Neko?«

Hinter ihm, wo er eben noch seine Zuhörerin wähnte: nichts.
Er stoppte abrupt. Wo war sie hin? Er konnte sie doch nicht verloren haben? Die letzten Minuten ging es doch nur geradeaus. Kurz kam ihm der absonderliche Gedanke, dass der Regen sie vielleicht irgendwie aufgelöst hatte. Konnte doch sein? Er glaubte es nicht wirklich!

»Neko?« – Nichts. »NEEEKO?« – Keine Antwort.

Er machte sich umgehend auf den Weg zurück. Er blickte dabei hinter jedes geparkte Auto zu seiner Linken und sah in jedem Hauseingang zu seiner Rechten nach. Zwischendurch rief er immer wieder nach ihr.

»Neko! Komm raus. Das ist nicht lustig!«

Er ärgerte sich. Womit hatte er denn dieses Spielchen wieder verdient? Alle paar Eingänge wurde die Häuserzeile durch eine Nebenstraße gekreuzt, an der er jedes Mal kurz stehen blieb, um auch in diesen Ausschau zu halten. Aber keine Neko soweit das Auge reichte.
Ein dumpfes Gefühl breitete sich in seiner Magengegend aus.

»Scheiße! Tu mir das doch nicht an!«

Als er panisch die nächste Kreuzung erreichte, kam er gar nicht dazu in die Seitenstraße zu spähen. Von einer unsanften Landung auf seinem Hinterteil gekrönt, rutschte er auf etwas aus.
Sein schmerzender Steiß, die herumliegenden Einkaufstüten und die Tatsache, dass er in einer tiefen Pfütze saß, waren ihm aber egal.
Wichtiger war, dass er den Grund seines Ausrutschers erkannt hatte.
Er starrte die peinlich-rosafarbene Tüte an, während der erste Blitz des Abends die nassen Pflastersteine erleuchtete.


* * *


Sie hatten den halben Weg nach Hause bereits in ziemlich eiligem Tempo zurückgelegt.

Aus den Tröpfchen war inzwischen ein stärkerer Regen geworden.
Das Grau erinnerte das Flammenkind an ein weiches Schwarz.

Es blies zwar kein Wind, aber Neko empfand bei jedem Regentropfen, der ihre Haut berührte, ein unangenehmes Stechen.

Kiro, der scheinbar in Gedanken vertieft war, lief schon einige Meter vor ihr. Nicht nur, dass er ihr sowieso schon zu schnell lief, nein,
er beschleunigte sein Tempo jetzt auch nochmal.
Als sie an einer der vielen Kreuzungen gerade nach ihm rufen wollte, er solle warten, war sie plötzlich wie gelähmt.

»Ser – va ...«

Sie drehte sich ganz langsam in die Richtung, aus der sie dieses Flüstern vernommen hatte. Sie konnte niemanden sehen. Nur das alte, leerstehende Gebäude am Ende der Sackgasse.
Neko, die es nun doch auf eine Einbildung schob, wandte sich wieder ab.

»SERVA!«

Jetzt zuckte sie heftig zusammen und ließ vor Schreck die Tüte mit der Unterwäsche fallen. Sie stand stocksteif da. Ihre Nackenhärchen sträubten sich und ihr Herz pochte schnell und kräftig.
»Das ... das kann doch nicht sein«, sprach sie leise zu sich selbst. Neugierig und mit erstaunt geöffnetem Mund setzte sie langsam einen Schritt nach dem anderen in die breite Gasse.
Dass die einzig Funktionierende, der drei Straßenlaternen, jetzt auch noch den Geist aufgab, störte sie nicht. Im Gegenteil. Jetzt konnten ihre Augen in der Dunkelheit das Gebäude besser sehen.
Eine lange verfallene Bibliothek, wie sie an dem schmiedeeisernen Schild, das ein Buch zeigte, erkannte. Aus den noch nicht abgefallenen, großen Buchstaben über der mächtigen Eingangstür wurde sie nicht schlau.

CHRONO : ' : : CHI : :

Ohnehin näherte sie sich bereits, Schritt für Schritt, dem Gebäude.
Sie konnte dem inneren Drang nicht widerstehen. Schon gar nicht, als sie jetzt das kleine orange Lichtlein in einem Fenster ganz oben im dritten Stock entdeckte. Sie ließ es nicht aus den Augen. Solange bis sie vor der massiven Eichentür stand und ihr aus diesem Blickwinkel ein breiter Fenstersims die Sicht versperrte. Neko musste da einfach rein. Anders würde sie nie herausfinden können, ob das Leuchten tatsächlich von der Person stammte, die sie vermutete; sich ersehnte!
Sie musste sich mit beiden Händen und ihrem ganzen Gewicht an die verrostete Klinke hängen, aber sie bewegte sich. Mit einem kratzigen Quietschen, dann einem lauten Klack, sprang die schwere Pforte einen Spalt weit auf. Noch ein energisches Dagegenstemmen, dann blockierte sie ein gebrochenes Scharnier nun endgültig. Aber die Lücke war jetzt gerade so groß, dass Neko hindurchschlüpfen konnte.
– Durch die Tür des Wissens. –

Es roch nach altem Papier, nach Staub und einem Hauch von Schimmel. Der große Vorraum, durch den sie jetzt schritt, war voller alter Lesesessel und dazugehörigen Beistelltischen. Der kleine Slalom, den sie in Kauf nehmen musste, führte geradewegs auf einen Schreibtisch zu.
Es muss einst eine Empfangsdame daran gesessen haben. Auf dem schmutzigen Namensaufsteller war noch ein Teil ihres Namens zu erkennen: – Miss ...­liope –
Neko ging um ihn herum zu den zwei Türen. Den offensichtlich nicht mehr vertrauenswürdigen Fahrstuhl, daneben, hakte sie gedanklich ab.
Sie umfasste den Knauf der rechten Tür.

»Ich bin hier ...«, schien das Flüstern jetzt von dicht hinter der linken zu kommen.

Neko entschied sich, so geleitet, dann doch rasch für diese.
– Die linke Tür der Entscheidung. –
Ein dunkler Treppenaufgang.
Während sie nun die Stufen emporstieg, lockte sie die Stimme immer weiter. Sie wusste, dass die dritte Etage ihr Ziel war.
Mit der einen Hand am hölzernen Geländer stand sie auf der allerletzten Stufe. Die andere Hand hatte sie bereits auf der Klinke der einzigen Tür hier oben, neben der des kaputten Aufzugs. Durch das Schlüsselloch konnte sie den flackernden Schein eines Feuers erahnen.
Sie atmete tief durch und trat ein.

An der Wand gegenüber loderte ein Feuer in einem prunkvollen offenen Kamin. Davor ein schäbiger alter Ohrensessel, dem wärmenden Feuer zugewandt, sodass Neko von der Person die darin saß, nur einen Arm auf der Lehne sehen konnte. Überall lagen zerfetzte Bücher verstreut auf dem Boden. Am Kleiderständer neben der Tür hing ein langer grauer Mantel.
Das Nächste, was Neko entgegenschlug, war der Duft, den sie heute schon oft in der Nase hatte. Jetzt war er allerdings so intensiv, dass es für sie kein Zweifel mehr gab.

»Licentia?! Schwesterherz?!«

Ein Lächeln zauberte sich in Nekos Gesicht und sie lief freudig die paar Schritte zum Sessel.

Dann passierten genau drei Dinge gleichzeitig:

Als sie den Flammen näher kam, entdeckte sie zwischen den darin brennenden Büchern, drei große, metallene, glühende Buchstaben, die das Wort AVE bildeten. – »Ave? Sei gegrüßt?«, war ihre Reaktion darauf.

Die Tür hinter ihr schlug mit einer solchen Wucht in den Rahmen, dass es von allen Deckenbalken des Raumes anfing Staubflocken zu schneien. – Nekos Herz blieb vor Schock beinahe stehen.

Und der Arm auf der Sessellehne stellte sich als genau das heraus!
Ein einzelner menschlicher Arm, der durch die zuschlagende Tür nun vom Polster rollte und direkt auf Nekos neuen Schuhen landete.

»Ave! – Lebe wohl!«, krächzte das Wesen heiser, das ihr grinsend den einzigen Fluchtweg genommen hatte. »Licentia – Nein.«

Der erste Blitz des Abends zuckte auf. Sein weißes Licht erleuchtete den Besitzer dieser böse hauchenden Stimme nur kurz.
Neko, die immer noch die Luft anhielt, reichte dieser Bruchteil einer Sekunde, um zu begreifen, was jetzt passieren würde.
Und was er war!
Die dunkelgraue, fast schwarze, schuppige Haut; die leeren Augenhöhlen; die unzähligen, freiliegenden, kurzen, nadelspitzen Zähne.

»Exsecutor«, sprach die Kleine gerade noch aus, als die große hagere Gestalt mit einem riesigen Satz aus seiner Ecke auf sie zu sprang.
Neko entkam nur durch einen unmenschlich schnellen Reflex den langen Krallen. Diese zerfetzten jetzt mit einem Hieb den Sessel.
Seine gewaltige Sprungkraft ließ den Angreifer jedoch noch etwas weiter in einen riesigen Berg Bücher krachen. Das kurze Zeitfenster, in dem die Bestie sich daraus befreite, nutzte Neko für einen Fluchtversuch zur Tür. Doch sie kam nicht weit. Sie rutschte auf dem abgetrennten Arm aus und schlug der Länge nach hin. Ohne sich umdrehen zu müssen, wusste sie, dass sie keine Zeit für einen schnellen zweiten Versuch hatte. – Das schnelle Klackern von Krallen auf dem Parkett – Schon packte es auf allen Vieren ihren Fuß und zog sie zu sich; unter sich. Neko hatte nichts, um sich zu verteidigen. Das Feuer könnte sie gebrauchen, aber es war zu weit weg. Sie hatte nichts in Reichweite, außer ...
Mit weit aufgerissenem Maul wollte er ihr das Gesicht zerbeißen, da schlug ihm etwas den Kopf zur Seite.
– Der einzelne Körperteil musste ihr als makabere Waffe dienen. –
Der nächste Versuch, ihr dutzende Reißzähne in Gesicht oder Hals zu schlagen, endete mit einem Biss in ihren Arm.
– Den, den sie mit beiden Händen vor sich hielt. –
Das matschige Geräusch von zerquetschendem Fleisch und das knackende Zersplittern der Knochen waren zu hören. Kaltes Blut spritzte der am Boden Kämpfenden ins Gesicht. Auf ihren Lippen schmeckte sie ... Licentia. Der Exsecutor schüttelte seine falsche Beute wild hin und her, bis sie zerriss. Eines der zwei Teile flog im hohen Bogen geradewegs ins Feuer und wirbelte Unmengen an kleinen Fünkchen auf.
Das Flammenkind, dem die Möglichkeiten ausgingen, hatte nur noch eine verzweifelte Hoffnung. –

Sie schloss die Augen und klatschte mit all ihrer verbliebenen Kraft einmal so stark die Hände zusammen, dass es schmerzte.

Es funktionierte!
Das Flammenkind als Epizentrum, geriet die Luft um sie herum in ein wellenförmiges Hitzeflimmern. Die Fünkchen des Kaminfeuers entzündeten in einem gleißenden Moment alle umherschwebenden Staubflöckchen im Raum.
Die Bestie riss sofort die Arme schützend nach oben. Ihr Kreischen klang dabei wie Glasscherben auf einer Schiefertafel.

Neko, selbst noch überrascht von dem Gelingen, krabbelte, stolperte, rannte zur Tür.
– Der Tür der Begegnung. –
Die Hälfte der Stufen der ersten Treppe nahm sie noch. Den Rest kürzte sie mit einem Sprung über das Geländer ab. Panisch wollte sie bloß noch nach unten. Raus hier! An der letzten Treppenkehre hörte sie Kiro nach ihr schreien. Er stand draußen vor der Eingangshalle und hämmerte mit seiner Schulter immer wieder gegen die große Pforte.
Er hatte die Geräusche des Kampfes gehört. Den Schrei. Er wollte zu ihr, aber passte nicht durch den engen Türspalt.
Noch etwas hörte sie: wütendes Knurren; tobendes Schnauben, das nun von oben die Verfolgung aufnahm. Dann: lautes, blechernes Scheppern. Als sie sich außer Atem danach umdrehte, verfehlte ihr Fuß die nächste Stufe. Die letzte halbe Treppe stürzte sie schmerzhaft herab. Unten angekommen, beendete der dumpfe Aufprall ihrer Stirn gegen die Holzvertäfelung ihren Fall. Das Blut, das ihr aus der Platzwunde in die Augen lief, nahm ihr die Sicht. Das Adrenalin darin ließ sie jedoch, fast blind, einfach weiterlaufen. Sie erkannte gerade noch den Schreibtisch, an dem sie vorbei musste.
– Ein schwerer Ziegelstein zertrümmerte derweil das hohe Fenster neben dem entfernten Haupteingang. –
Sie setzte zum letzten Endspurt in diese Richtung an und rannte los.

»HILF MIR, KI...«

Doch weiter kam sie nicht!
Nicht weiter als bis zu der leicht geöffneten Blechtür des Fahrstuhlschachtes. Etwas hinderte sie abrupt an ihrer Vorwärtsbewegung.
Mit erstarrtem Gesichtsausdruck tastete Neko nach ihrer Brust.
Erfühlte die lange, mit Widerhaken besetzte, schuppige Fangkralle, die sich durch ihren Rücken gebohrt hat.

»Ki – ro ...«, brachte ihre Stimme noch angestrengt hervor.
Dann wurde ihr Körper mit einem Ruck nach hinten an die Aufzugstür geschmettert.
– An die Tür des Abschieds –



____________________________________________________________

Exsecutor
[Latein – Vollstrecker; Rächer]

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top